Gewalt beginnt im Kleinen und die Revolution bei uns selbst

Eine BlogKolumne von Christine Tisch

Roses Revolution naht. Bereits zum vierten Mal werden am 25.11.2016 viele Frauen in aller Welt Rosen an dem Ort ablegen, an dem ihnen während, vor oder nach der Geburt ihres Kindes Gewalt angetan wurde. Sie werden ihre Geschichte erzählen und es werden grausame Geschichten dabei sein. Erlebnisse, die davon zeugen, wie Frauen durch Geburtshelfer massive Gewalt angetan wurde. Alles unter dem Deckmantel, nur so das Leben von Mutter und Kind gerettet zu haben.

Es werden Geschichten zutage kommen, die davon berichten, wie ohne Aufklärung oder Einwilligung körperliche Eingriffe durchgeführt wurden, Schnitte gesetzt oder Medikamente verabreicht wurden. Frauen werden davon berichten, wie sie psychisch massiv unter Druck gesetzt und gedemütigt wurden.

Es werden Geschichten sein, die einen schaudern lassen, die tiefes Mitgefühl mit den betroffenen Frauen und heftige Wut auf das Geburtshilfesystem auslösen werden.

Es ist für alle Beteiligten ein schmerzhafter und doch so wichtiger Tag, denn oftmals ist der Roses Revolution Day mit seinem Motto „break the silence“ für viele Frauen die Initialzündung, die es braucht, um sich diesen Grenzverletzungen bewusst zu werden, einen Rahmen zu haben, darüber sprechen zu dürfen und so einen ersten Schritt hin zur Heilung und Versöhnung zu machen.

Diese grausamen Erzählungen, die wir lesen und hören werden, sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Sie sind die extremsten Auswüchse eine Systems, das von der Prämisse ausgeht, dass Fachleute, Dritte, auf jeden Fall jedoch nicht die Frau selbst, am besten wissen, was für Mutter und Kind gut und richtig ist.

Gewalt beginnt früher, viel früher

Sie beginnt, wenn bestimmte Vorgehensweisen als alternativlos dargestellt werden, z.B. wenn bei einer Beckenendlage der Kaiserschnitt als die sicherste und einzig richtige Geburtsoption präsentiert wird.

Sie beginnt, wenn die Option des „Wissens“ und „Diagnostizierens“ als unumgänglich betrachtet wird. Wenn ohne Aufklärung, ohne Einverständnis, routinemäßig bei jeder Vorsorge ein Ultraschall durchgeführt wird, immer in der Annahme, dass die Frau doch auf diese Weise „wissen“ und „sehen“ will, wie das Kind in ihrem Bauch wächst und gedeiht. Sie beginnt, wenn die Option des Nichtwissens keine Option mehr sein darf.

Sie beginnt, wenn ohne Zustimmung, ohne Einverständnis informiert und aufgeklärt wird. Wenn der Frau, die eine außerklinische Geburt anstrebt, ungefragt alle nur denkbaren Risiken detailliert erläutert werden und einer Frau, die in einer Klinik gebären will, auf Nachfrage die Risiken vorenthalten werden.

Und sie beginnt, wenn bewertet wird. Wenn die geplante Hebammenvorsorge als fahrlässig und die außerklinische Geburt als unverantwortlich dargestellt wird. Wenn suggeriert wird, das, was die betroffene Frau fühlt, denkt, plant, sei nicht „richtig“ und jemand anderes, ein Fachmann, wisse besser, was für sie gut sei.

Gewalt beginnt im Kleinen, im ganz Kleinen.

Wenn wir ganz genau hinschauen und ganz ehrlich zu uns selbst sind, sind auch wir, die wir uns für Selbstbestimmung während Schwangerschaft und Geburt einsetzen und uns im Elternprotest für eine sichere Geburtshilfe stark machen, nicht frei von Gewalt.

Denn viel zu oft informieren auch wir, ohne zu fragen, ob diese Informationen überhaupt gewünscht sind. Wie schnell passiert es uns, dass eine Frau uns beiläufig erzählt, dass „ihr Kaiserschnitt einfach sein musste“, und wie schnell sind wir ungefragt mit Informationen zu Stelle, dass dieser Kaiserschnitt vielleicht doch eher klinikgemacht als wirklich lebensrettend war. Ohne uns und die Frau zu fragen, ob sie diese Informationen überhaupt zu diesem Zeitpunkt möchte, ob sie die Trauer und den Schmerz, den diese Informationen vielleicht auslöst, in diesem Moment überhaupt tragen kann.

Viel zu oft meinen wir zu wissen, wie die Geburt für Frauen und Kinder am „besten“ verläuft, was Frauen dafür brauchen, was sich gut und richtig anfühlt. Wir berufen uns dabei auf die physiologische Geburt, auf altes Hebammenwissen, auf evidenzbasierte Studien. Und wir vergessen viel zu oft, dass dies letztendlich nicht für alle Frauen entscheidend ist. Dass es sich für manche Frauen vielleicht tatsächlich besser anfühlt, ihre Verantwortung an das Geburtshelferteam abzugeben, weil sie sich so vielleicht am sichersten fühlen und sich nur so wirklich auf die Geburt einlassen und ihren Kopf ausschalten können. Diese Frauen  hatten vielleicht nie die Möglichkeit, zu lernen und zu üben, für sich selbst einzustehen, weil dafür in ihrem bisherigen Leben kein Raum war oder dies vielleicht in ihrer aktuellen Lebenssituation über ihre Kräfte gehen würde.

Viel zu oft bewerten wir. Bewerten eine außerklinische Geburt als die „selbstbestimmtere“, eine natürliche Geburt als die „sanftere“, die Hebammenvorsorge als die „frauenzentriertere“. Dabei vergessen wir, dass wir mit diesen Bewertungen auch immer die einzelne Frau bewerten, die sich vielleicht für eine Klinikgeburt, einen Wunschkaiserschnitt oder den monatlichen 3D-Ultraschall entschieden hat. Wir vergessen, dass wir die Entscheidung dieser Frau mit unserer Bewertung gleichzeitig abwerten – und wenn wir nicht sehr sorgsam in unserer Wortwahl sind, sogar die Frau selbst.

Wenn wir Gewalt in der Geburtshilfe bekämpfen wollen, müssen wir bei uns selbst anfangen. Anfangen, indem wir uns Fragen stellen. Uns fragen, wie wir einerseits aufklären und „das Schweigen brechen“ können und andererseits gut die Grenzen der betroffenen Frauen wahren können. Uns fragen, wie es uns gelingen kann, Frauen zu sensibilisieren und gleichzeitig genau dort abzuholen, wo sie stehen, sie emotional nicht zu überfordern und damit unbewusst und ungewollt in ihren Grenzen zu verletzten. Wir müssen uns fragen, wie das Recht auf Aufklärung über (Patienten-)Rechte und umfassende Information gut mit einem  Recht auf (noch!) Nichtwissen (wollen) vereinbart werden kann.

Die Revolution beginnt bei uns selbst

Ich bin der Überzeugung, dass die Revolution in der Geburtshilfe bei uns selbst beginnen muss: Wir müssen diese Fragen zulassen. Wir müssen miteinander ehrlich und selbstkritisch ins Gespräch gehen, uns reflektieren und hinterfragen. Wir müssen anerkennen, dass wir nicht wissen, was für den anderen gut ist. Wir müssen uns von unserer inneren Dogmen verabschieden und so Selbstbestimmung nach allen Seiten möglich machen.

Lasst uns gemeinsam für einen selbstbestimmten und gewaltfreien Umgang mit allen Schwangeren, Gebärenden und Müttern einstehen. Lasst unsere friedliche Revolution bei uns selbst beginnen.


 

Danke, Christine – für deine Worte, dein Verständnis und deine Stimme in der Elternprotestbewegung für sichere Geburtshilfe in Deutschland.

Silke,
von Elternstimme sichereGeburt

7 Kommentare

  1. Ein wunderschöner Text, vielen lieben Dank dafür!

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    1. Es freut mich, dass er Dir gefällt. Danke.

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  2. BIRGITT KELLERMANN · · Antworten

    Ich hätte nie gedacht,dass jemand traumatische Vorgänge rund um die Geburt,die mich und viele andere Frauen teilweise jahrzehntelang bis in die Träume begleiten,derart wertet und überhaupt hören möchte…es erleichtert ungemein!

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    1. Du bist nicht allein Birgitt, wir sind ganz viele. Es freut mich, dass es dich ein wenig erleichtert. Liebe Grüße, Silke

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  3. Christine Casar · · Antworten

    Liebe Christine, dass was du hier schreibst ist die Warheit, nichts als die Warheit.

    Wir Hebammen und auch die Ärzte, aber auch die Frauen selbst, machen eine Erfahrung, die uns zur Reflektion zwingen sollte, jeden Tag aufs Neue. Aber nicht alleine. Wir müssen uns gemeinsam Austauschen, um voneinander zu Lernen.

    Was Tue ich Wie !

    Wenn diese Zeit nicht mehr gegeben ist, erst dann wird es Schwierig.

    Geburtshilfe ist eine Initiation an die Frau. Und die Schwangerschaft ist ein Geheimnis.

    Aus Angst vor etwas Unerwarteten und die Neugierde, lässt viele, vor allem Ärzte an den Schwangeren Frauen Forschen. Und diese lassen alles Mögliche an sich geschehen, weil sie keine Ahnung haben.
    Auch hier haben die Frauen verlernt sich zu Schützen, aus Nichtwissen.
    Wo viel Geforscht wir, lässt sich auch oft etwas finden, was nicht relevant ist.
    Aber es verunsichert auch die werdenden Mütter.
    Aus meiner Erfahrung, wird das an das Ungeborene weitergegeben.
    Dieses Kind wird es in seinem Leben Spiegeln . z. B. (“ Ich wurde von Anfang an in Frage gestellt.“)
    Wo ist die Selbstverständlichkeit und das Vertrauen in mich als Schwangere Frau ?

    Selbstverantwortung muss wieder geübt werden !

    Macht weiter sooooooooooo.

    Es ist Wunderbar.

    Lg. Christine

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    1. „Geburtshilfe ist eine Initiation an die Frau“

      Das musste ich einfach nochmal von dir zitieren, weil es so punktgenau und nachhaltig ist.

      Danke für deinen Kommentar, Christine.

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  4. Vielen herzlichen Dank für diesen nachdenklichen und selbstkritischen Blick!
    Ich habe so viele Geburtsberichte gelesen von Horrorgeburten in Kliniken und wunderschönen hebammengeleiteten Geburten, da ist es mir ein Anliegen zu sagen, dass es auch umgekehrt sein kann. Ich habe alle Vorsorgeuntersuchungen von meiner regulären Gynokologin machen lassen und in einer Klinik geboren, und ich fühlte mich von allen involvierten Personen nicht nur physisch, sondern auch psychisch umsorgt und angenommen.
    Die Nachbetreuung im Wochenbett hat eine freiberufliche Hebamme übernommen, die mir eine Kollegin empfohlen hatte. Als ich ihr von meiner Geburt erzählte, und wie nett die Ärzte gewesen seien, hat sie darauf mit Horrorgeschichten von anderen von ihr betreuten Frauen geantwortet. Im Nachhinein denke ich, sie wollte mir einfach nicht glauben, dass frau in einer stinknormalen Klinik gut gebären kann. Dann steigerten sich meine Stillschwierigkeiten immer mehr. Es tat so weh, dass ich regelrecht Angst vor meinem Baby bekam. Die Hebamme meinte achselzuckend, da müsse ich halt durch. Sie war völlig darauf fixiert, dass das Baby von meiner nackten Brust trinkt, meine Fragen nach Pro und Kontra verschiedener Alternativen hat sie kommentarlos abgelehnt.
    Ich glaube, dieses Beispiel zeigt deutlich, wie wichtig der Aspekt Mensch in diesen Situationen ist, und ich wünsche mir, dass alle Gebärenden und Wöchnerinnen Menschen wie Christine um sich haben, die sie mit ihren Wünschen akzeptieren und ernst nehmen, auch wenn es nicht ihren eigenen Vorlieben entspricht.

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