Geburt am Fließband oder bedürfnisorientierte Geburtshilfe?

Die geburtshilfliche Situation in NRW ist gezeichnet von Schließungen ortsnaher Kliniken. Gebärende Frauen müssen lange Fahrtweg auf sich nehmen, um eine Klinik mit Kreißsaal zu erreichen. Aufgrund des gesundheitspolitischen Konzeptes zur Zentralisierung der Geburtshilfe in Perinatalzentren haben Frauen kaum noch die Wahl zwischen kleinen, familiären Kliniken vor Ort mit individuellerer Geburtsbetreuung oder großen Geburtszentren in oft großer Entfernung. Das Angebot beschränkt sich oft nur noch auf Spezialkliniken zur Versorgung von Frühgeborenen. Diese Zentralisierung ist bereits weit fortgeschritten. Durch die massiven Schließungen von ortsnahen Kreißsälen steigt jedoch die Anzahl der Frauen pro Einrichtung. Immer mehr Gebärende müssen in den verbliebenen Kliniken versorgt werden, jedoch ohne Steigerung des Personalschlüssels.
Geburt am Fließband, Gebärende in Warteposition auf den Fluren der Kliniken, überfüllte Kreißsäle, schnelle Abwicklung, schneller Kaiserschnitt – ein Zukunftszenario?

Für gebärende Frauen ist schon heute keine individuelle und kontinuierliche Geburtsbetreuung in den Kliniken möglich. Eine Hebamme betreut hier, neben den organisatorischen und bürokratischen Anforderungen ihres Arbeitsplatzes, bis zu fünf Gebärende gleichzeitig. Dies führt zur Überarbeitung der Hebammen und damit zum Sinken der Betreuungsqualität.[1] Die persönliche Zuwendung und das beruhigende Gespräch von Mensch zu Mensch weichen der Überwachung mit Maschinen. Die Frauen werden systembedingt allein gelassen. Zudem stehen viele Kliniken vor der Herausforderung unbesetzter Hebammenstellen. Fast jedes fünfte Krankenhaus mit Geburtshilfe hat Schwierigkeiten Hebammen zu finden.[2] Dies gilt gleichermaßen für die Besetzung von Stellen in Festanstellung, als auch für die Besetzung mit freiberuflichen Hebammen, da bereits heute rund 59% aller Kliniken mit freiberuflichen Hebammen zusammen arbeiten. Von dieser Entwicklung sind auch geburtshilfliche Fachärzte betroffen. Auch hier bleiben bereits viele Stellen unbesetzt. Vor dem Hintergrund, dass noch mehr Frauen pro Klinik betreut werden müssen, weil es keine Alternativen mehr gibt und die Versorgung durch einen Hebammen- und Ärztemangel nicht sichergestellt werden kann, steuert die Geburtshilfe in eine Sackgasse. Zum Glück wird diese achtspurig ausgebaut.

Zeitgleich sinkt die Zahl der Frauen, die durch eine Bezugshebamme während der Geburt in der Klinik begleitet wird. Nur Beleghebammen haben die Möglichkeit ihre Frauen kontinuierlich während der Geburt in der Klinik zu begleiten, und deren Zahl sinkt drastisch, da sie freiberuflich tätig sind und durch die gestiegenen Haftpflichtprämien zum Aufgeben ihres Berufes gezwungen werden. Dabei ist es gerade diese intensive 1:1 Betreuung, die die Gesundheit von Frauen und Kindern schützen kann. Eine kontinuierliche und individuelle Betreuung einer Frau unter der Geburt senkt die Anzahl medizinischer Interventionen, u.a. Kaiserschnitte deutlich.[3]
In NRW wird seit vielen Jahren ein Anstieg der Kaiserschnittrate beobachtet. Dieser Anstieg scheint auch durch ökonomische Zwänge (höhere Fallpauschalen für intervenierte Geburten als bei natürlichen Geburten) und durch die Zentralisierung der Geburtshilfe begünstigt zu werden. Der Kaiserschnitt wird als der sicherste Weg der Geburt gesehen. Allerdings werden wissenschaftliche Erkenntnisse über seine negativen Auswirkungen ausgeblendet: „…so zum Beispiel Komplikationen bei der Mutter durch die Operation Kaiserschnitt, mögliche gesundheitliche Auswirkungen auf das Kind wie Allergie und Diabetesneigung, mögliche soziale Folgen durch ein erschwertes Bonding.[4]“ Die gesundheitlichen Folgen und die dadurch verursachten finanziellen Auswirkungen sind nicht prognostiziert. Diese werden den nachfolgenden Generationen aufgebürdet, da sich erst langfristig zeigen wird, welche wirtschaftlichen Probleme dadurch verursacht werden. [5]

Die außerklinische Geburtshilfe im Geburtshaus ist in NRW kaum noch möglich. Vereinzelt oder in großen Städten wie Düsseldorf, Köln und Münster gibt es diese Möglichkeit für Frauen noch. Schwangere Frauen in den Landkreisen von NRW haben keine Wahl mehr zwischen klinischer oder außerklinischer Geburtshilfe. Das Sterben der Geburtshäuser wird durch versicherungspolitische Rahmenbedingungen für Hebammen weiter gefördert. Das Gleiche gilt für Hausgeburten. Frauen wollen jedoch diese Art der Begleitung während ihren Geburten. Sie entscheiden sich bewusst gegen eine Klinik. Wie werden über 2000 Frauen pro Jahr in NRW entscheiden, wenn keine Entscheidung mehr möglich ist?[6] Wird die Alleingeburt dann eine mögliche, vielleicht sogar die einzige Option?

Allgemeine Prognosen über die zukünftig zu erwartenden Geburten bleiben ein Zahlenspiel. Die zukünftige Anzahl der Geburten lässt sich nicht sicher prognostizieren. Die menschliche Natur lässt sich kaum mathematisch erfassen und voraussagen. Leider werden Frauen zu Zahlen und Zahlen werden in Formeln verarbeitet. Das Ergebnis der Berechnungen sind wieder Zahlen, die Teil von Entscheidungsrundlagen werden. Die Frau mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Ängsten bleibt unberücksichtigt. Sie ist die große Unbekannte in diesem Zahlenspiel.

Frauen sind keine Wirtschaftsgüter und ihre Gesundheit und Würde dürfen keine Zahlen in Wirtschaftlichkeitsrechnungen sein. Frauen sichern die Existenz einer Gesellschaft. Daher ist es von gesamtgesellschaftlicher Relevanz den Lebensstart der Familien bedürfnisorientiert zu gestalten. Es ist die moralische Verantwortung jedes Einzelnen, neuem Leben von Anfang an die beste Begleitung zu ermöglichen, und zwar individuell, fürsorglich und menschlich.

*****
#aktenrw #elternstimme #sicheregeburt #hausgeburt #kreißsaal #geburtshaus #hebammen #elternprotest #geburt #schwangerschaft #münster #düsseldorf #köln #dortmund #bonn #arnsberg #detmold #Kaiserschnitt

+++Akte NRW wurde am 11. Mai 2015 veröffentlicht. Alle Daten und Analysen, die sich auf die Recherche offener und geschlossener Einrichtungen beziehen, basieren auf dem Recherchestand von Februar 2015. Alle Angaben ohne Gewähr.
*****

[1] Vgl. McGrath, Susan K. und Kennel, John H. A randomized controlled trial of continuous labour support for middle-class couples: effect of cesarean delivery rates. Birth, 35(2):92-97, 2008

[2] Krankenhaus Barometer 2014, [online], verfügbar unter: https://www.dki.de/sites/default/files/downloads/krankenhaus_barometer_2014.pdf, [27.02.2014]

[3] Vgl. McGrath, Susan K. und Kennel, John H. A randomized controlled trial of continuous labour support for middle-class couples: effect of cesarean delivery rates. Birth, 35(2):92-97, 2008

[4] AKF, [online], verfügbar unter: http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST16-2557.pdf, [17.03.2015]

[5] Vgl. Lück, Anja. Das Mikrobiom: menschliche Nähe zum Schutz vor Krankheit, [online] verfügbar unter: https://elternprotestjena.files.wordpress.com/2015/03/mikrobiom.pdf, [25.03.2015]

[6]ca 2% der Kinder kommen pro Jahr außerklinisch auf die Welt. 2013 waren das ca. 13641 registrierte außerklinische Geburten bundesweit. NRW verzeichnet durchschnittlich 14,8% dieser Geburten im Jahrgang.

ein Kommentar

  1. […] Geburt am Fließband oder bedürfnisorientierte Geburtshilfe? […]

    Like

Hinterlasse einen Kommentar